Anstatt eines “Wort des Tages”

Anstatt eines “Wort des Tages”

Viele Gläubige sind erschüttert, dass ihnen das Wichtigste, die Feier der Heiligen Messe momentan untersagt ist. Was das Zweite Vatikanische Konzil als “Quelle und Höhepunkt” des christlichen Lebens bezeichnet, wird von den Katholiken nun schmerzlich vermisst.

Die folgende Leseprobe aus “Christus im KZ” des Lungauer Priesters Leonhard Steinwender, der seine Erlebnisse im Konzentrationslager Buchenwald nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht hat, möge den Gläubigen zur Erbauung in diesen Tagen dienen. Das Buch wurde kürzlich neu herausgegeben und kann im Widum oder im Buchhandel (ISBN: 978-3-86357-259-4) erworben werden.

Die ersten Kameraden, die sich zu einem religiösen Zirkel zusammenfanden, waren die Landsleute, in unserem Falle die Österreicher, unter ihnen die Salzburger, die für die Freiheit ihrer Heimat bis zur letzten Stunde gekämpft hatten, Kameraden, die zum Teil schon an den Sonntagsfeiern in den Zellen der Gestapo in Salzburg teilgenommen hatten. Dazu kamen Freunde und Bekannte aus Wien und den anderen österreichischen Bundesländern und neue Freunde aus dem Altreich. Einer fand bald zum andern und nach wenigen Wochen war der Plan einer gemeinsamen Gestaltung des Sonntages und eines gemeinsamen Erlebens des Kirchenjahres spruchreif und wurde mit bescheidensten Mitteln durchgeführt. Wie groß die Schwierigkeiten waren, die sich der Durchführung dieses Planes entgegenstellten, geht daraus hervor, dass keinerlei seelsorgliche Mittel zur Verfügung standen. Wir hatten keine Kirche, keine Kapelle, keinen religiösen Raum für die 20.000 Häftlinge und es war ausgeschlossen, das bescheidenste Gelass für Kultzwecke instandzusetzen. Wie froh wären wir nur um eine Scheune oder um einen leeren Schafstall gewesen! Es gab kein Kruzifix und kein religiöses Bild, weder ein Brevier, eine Heilige Schrift, ein Missale oder sonst ein religiöses Buch. Als wir nach langem Suchen die Sonntagsevangelien aus dem Gedächtnis zusammengestellt hatten, konnten wir zwei beim besten Willen nicht herausbringen. Der schon erwähnte Kaplan aus Paderborn brachte es zustande, durch eine verdeckte briefliche Anfrage in der Heimat auch diese letzte Lücke auszufüllen. Uns fehlte kurz gesagt alles, was sonst selbstverständliche Voraussetzung für religiöse Feiern ist, auch der Mittelpunkt religiösen katholischen Lebens, das Messopfer, das Brot des Lebens und der Gnadenstrom der Sakramente. Die Abgelegenheit des Lagers auf dem Berge brachte es mit sich, dass wir auch aus den benachbarten Dörfern, deren Kirchtürme wir wohl sahen, niemals eine Glocke läuten hörten.

Die Lagerordnung und die Lagerarbeit erschwerten vor allem jede religiöse Zusammenkunft. Die Wochentage und die auf Wochentage fallenden kirchlichen Feste, wie Erscheinung des Herrn und Fronleichnam, waren restlos mit schwerer Arbeit oder sonstiger Lagerbeschäftigung ausgefüllt. Untertags war ein Zusammentreffen ausgeschlossen, ausgenommen die Arbeit, die Kameraden an derselben Arbeitsstätte zusammenführte. So blieb praktisch nur der Sonntag oder zu Ostern und Weihnachten der zweite Feiertag, der meistens arbeitsfrei war. Oft hatte man aber auch gerade am Sonntagvormittag eine „freiwillige Arbeit“ angesetzt. Wer sich an dieser sogenannten freiwilligen Sonntagsfron nicht beteiligte, wurde mit schweren Strafen belegt. So marschierte der größte Teil der Lagerinsassen auch am Sonntagvormittag bei jedem Wetter in den Steinbruch und schleppte auf den Schultern schwere Steine oft kilometerweit zu irgendeinem Straßenbau. So war eine kurze, besinnliche Sonntagsfeier am Morgen schon nicht mehr möglich und es fand sich nur noch in den wenigen Nachmittagsstunden Zeit, wenn nicht auch die durch einen Kleiderappell, durch ein strafweises Antreten auf dem Appellplatz oder eine andere Schikane ausgefüllt waren. Da uns ein ständig benutzbarer Raum fehlte, mussten wir mit größter Sorgfalt vorgehen, denn die Überwachung der Häftlinge war äußerst streng. Außerdem musste man bei der Zusammensetzung des Lagers vor den Mithäftlingen auf der Hut sein. Es gab immer Denunzianten, die sich durch ihre Angeberei eine Verbesserung der eigenen Lage erhofften, und gehässige Menschen, denen der Zweck unseres Zusammenkommens ein Gräuel war. Es gab Spione und Lauscher, vor denen man besonders auf der Hut sein musste. Es blieb daher nichts übrig, als ein verstecktes Plätzchen hinter einer Baracke oder im Walde zu suchen und den Ort der Zusammenkunft immer wieder zu wechseln. So saßen wir im Sonnenschein um irgendeinen Baumstrunk oder standen im Regen oder Schneesturm unter den Bäumen und hielten unsere Sonntagsfeiern. Selbstverständlich waren immer Kameraden als Wachposten aufgestellt, die jedes verdächtige Nahen eines SS-Mannes oder eines unsicheren Häftlings melden mussten, denn der Zweck unseres Beisammenseins musste getarnt werden. In möglichst nachlässiger und bequemer Haltung saßen wir herum und rauchten Zigaretten, wenn es welche gab, um den wirklichen Charakter unseres Treffens nach außen hin zu verschleiern. Die gute Kameradschaft mit den meisten der politischen Häftlinge, die großenteils Kommunisten waren, kam uns dabei zugute. Viele wussten genau, was uns zusammenführte, doch niemals wurde unser Kreis gestört oder gar verraten. Mehr als einmal kam es vor, dass jemand mir im Wohnblock sagte: „Deine Leute warten schon auf dich.“ Mehr als einmal wurde ich aufmerksam gemacht, auf diesen oder jenen Mithäftling zu achten, dem man eine schuftige Handlung zutrauen könnte. Nicht selten geriet auch unabsichtlich ein Unberufener in unsere Runde. Dann mussten wir sofort abbrechen und einen raschen, unverfänglichen Übergang auf ein harmloses Thema finden.

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Doch daneben gab es auch erhebende Augenblicke in Stunden der Gnade. Sonntage und Festtage haben uns durch ihre ergreifende Schlichtheit manchmal tiefer ergriffen als die ganze Schönheit und Würde eines zur Gewohnheit gewordenen feierlichen Gottesdienstes in einer festlich geschmückten Kirche. Weihnachten erlebten wir, aller irdischen Habe beraubt, unbetreut von einer liebenden Hand, wie die Hirten vor der Krippe, und feierten Ostern, in denen uns das Alleluja des Auferstehungsmorgens in der Seele klang wie starkes Hoffnungsgeläute aus einer anderen Welt.

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Wenn wir trotz der gewaltigen Schwierigkeiten doch noch in einem zur Größe des Lagers zwar verhältnismäßig kleinen Kreise ein wirklich religiöses Leben aufrechterhalten konnten, so war das nur ein Werk der Gnade und des Gebetes der Heimat, das in ungezählten Briefen als tröstliche Botschaft zu uns drang. Diese unzerreißbare, oft sichtbar erlebte Gemeinschaft war ein mächtiger Auftrieb unserer seelischen und körperlichen Kräfte. Es war daher eine Selbstverständlichkeit, diese mächtigen Trostgedanken möglichst stark einzubauen und auszuwerten. Wir waren ja keine Kirchengemeinde im gewohnten Sinne, wir hatten kein Gotteshaus, keinem Bischof war es möglich, uns seine Hirtensorge angedeihen zu lassen. Uns vereinten nur der gemeinsame Glaube und die gemeinsame Not. Was konnte das Gemüt stärker erheben als der Gedanke der immerwährenden Zugehörigkeit zur Pfarrgemeinde in der Heimat? Der Schutzhäftling im KZ war polizeilich in der Heimat nicht abgemeldet. Noch weniger aus den Herzen derer entschwunden, die mit ihm fühlten, die mit ihm wussten, dass er ein großes Opfer für die Heimat brachte. Darum gab es kaum einen Gedankenaustausch, kaum eine Ansprache, die nicht an das Pfarrleben in der Heimatgemeinde, an die kirchlichen Heimatbräuche anknüpfte. Waren wir ohne Kirche, ohne Altar und ohne Messopfer, so dachten wir daran, dass wir in die Gebetsmeinung der heimatlichen Pfarrmesse eingeschlossen waren, die jeden Sonntag und jeden Festtag für die ganze Pfarrgemeinde, also auch für uns abwesende Brüder, gelesen wurde. So läutete auch uns eine Wandlungsglocke, so lebten auch wir in einer heiligen Gemeinschaft, die uns untrennbar mit der Heimat verband.